"Urteile nie über einen Anderen, bevor du nicht einen Mond lang in seinen Mokassins gegangen bist."
-Indianisches Sprichwort
In dem Programm "In Schuhen Anderer. Gesungene Bekenntnisse" leiht Franz Xaver Schlecht jenen seine Stimme, die eher selten im Fokus der Aufmerksamkeit stehen. In szenischer Weise interpretiert er gemeinsam mit Pianist Kilian Sprau und Sprecherin Rike Reiniger den Liederzyklus "Die Stimmen" von Antál Doráti, neun musikalische Portraits derer, die sich aus der Sicht Rainer Maria Rilkes zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts am Rand der Gesellschaft befinden.
Sie alle sind Teil der Gesellschaft mit ihrer ganz persönlichen Eigenwahrnehmung, ihrem ganz persönlichem Lied und Leid. Für jeden von ihnen verdichtete Rainer Maria Rilke seine Wahrnehmung und kurz vor Weihnachten 1975 unterlegte Antál Doráti diese mit Tönen.
Diesem Werk stellen wir Interviews mit Menschen gegenüber, die sich heute als randständig wahrnehmen. Lena Kostyurets hat für den SKM Augsburg (Katholischer Verband für soziale Dienst e.V.) narrative Interviews geführt und unter dem Titel 'Früher hast Du gedacht: "Du nicht!". Menschen. Begegnungen. Schicksale.' veröffentlicht. Rike Reiniger verdichtete vier davon und stellt sie zwischen den Liedern des Zyklus vor.
Wie unterscheidet sich der Blick Rilkes von dem des Randständigen auf sich selbst?
Wie verändert sich der Blick auf sie im Lauf von 100 Jahren?
Ist unsere Sichtweise auf Armut, Krankheit und Aufgeschlossenheit schicksalhaft und unabänderlich oder nur selbst gemacht?
PROLOG
Die Reichen und Glücklichen haben gut schweigen,
niemand will wissen was sie sind.
Aber die Dürftigen müssen sich zeigen,
müssen sagen: ich bin blind
oder: ich bin im Begriff es zu werden
oder: es geht mir nicht gut auf Erden
oder: ich habe ein krankes Kind
oder: da bin ich zusammengefügt ...
Und vielleicht, dass das gar nicht genügt.
Und weil alle sonst, wie an Dingen,
an ihnen vorbeigehn, müssen sie singen.
Und da hört man noch guten Gesang.
Freilich die Menschen sind seltsam; sie hören
lieber Kastraten in Knabenchören.
Aber Gott selber kommt und bleibt lang
wenn ihn diese Beschnittenen stören.
DAS LIED VON IKARUS
Meine Mutter hatte nur ein Mal Kontakt mit meinem leiblichen
Vater.
Und dabei ist das Unglück
geschehen.
Ich wurde unehelich geboren und
sie war streng katholisch.
Ich habe meine ersten drei Lebensjahre
in einem Kinderheim
verbracht.
Meine Mutter ist mit mir nicht zurechtgekommen.
In mir sah sie meinen Vater.
Ich war immer die lebendige Erinnerung
an ihre Sünden.
Dass ich als Kind nichts
dafür konnte,
das hat sie nie bedacht.
Ich habe bei meiner Mutter so viel Dresche gekriegt -
man kann sich das gar nicht vorstellen!
Meine Großmutter hat mich
vor meiner eigenen Mutter
beschützt.
Meine eigene Mutter
war hasserfüllt.
Das ist leider so.
Die Großmutter ist gestorben
als ich zehn Jahre alt war.
Meine Mutter hat im Krankenhaus gearbeitet.
Dort waren noch Ordensschwestern und
immer, wenn sie mich sahen, strahlten
sie und schmierten mir ein Kasseler Brot mit Butter drauf.
Zuhause gab es das nicht, weil der Stiefvater nur
Graubrot mochte.
Das Kasseler Brot hat mir so
gut geschmeckt!
Meine Überzeugung kommt aus den Erfahrungen
meiner eigenen Kindheit:
Freundlichkeit kostet kein Geld und
Hilfsbereitschaft,
die kostet auch kein Geld.
VI. DAS LIED DER WITWE
Am Anfang war mir das Leben gut.
Es hielt mich warm, es machte mir Mut.
Daß es das allen Jungen tut,
wie könnt ich das damals wissen.
Ich wusste nicht, was das Leben war -,
auf einmal war es nur Jahr und Jahr,
nicht mehr gut, nicht mehr neu,
nicht mehr wunderbar,
wie mitten entzwei gerissen.
Das war nicht Seine, nicht meine Schuld;
wir hatten beide nichts als Geduld,
aber der Tod hat keine.
Ich sah ihn kommen (wie schlecht er kam),
und ich schaute ihm zu wie er nahm und nahm
es war ja gar nicht das Meine.
Was war denn das Meine; Meines, Mein?
Was mir nicht selbst mein Elendsein
nur vom Schicksal geliehn?
Das Schicksal will nicht nur das Glück
es will die Pein und das Schrein zurück
und es kauft für alt den Ruin.
Das Schicksal war da und erwarb für ein Nichts
jeden Ausdruck meines Gesichts
bis auf die Art zu gehn.
Das war ein täglicher Ausverkauf
und als ich leer war, gab es mich auf
und ließ mich offen stehn.
In Kooperation mit